Die klimatische Bedeutung der Lützellindener Flächen für das Gießener Becken und der Kernstadt
Nach dem derzeitigen Stand der Fortschreibung des Regionalplans Mittelhessen ist beabsichtigt, im Gießener Stadtteil Lützellinden weitere 40 ha Gewerbeflächen zu erschließen. Es handelt sich um hochwertige landwirtschaftliche Böden mit hoher ökologischer und klimatischer Bedeutung.
Wegen sich verschärfenden Wetterlagen wurde dem Gießener Stadtklima bereits in den beiden letzten Sommern eine hohe Aufmerksamkeit gewidmet. Wie die Presse berichtete, litten die Bewohner der Innenstadt unter "Hitzeinseln, Backöfen und einer mangelnden Durchlüftung" (Gi-All. 01.08.19). Nach GEO-Net-Befunden (2014, S.60)² waren es bereits 2014 23% des Stadtgebietes Gießens, in denen die bioklimatischen Verhältnisse als weniger günstig bzw. ungünstig beurteilt wurden. Dies sind die Bereiche, in denen das urbane Leben (Wohnen, Einkauf, Gewerbe usw.) verstärkt stattfindet, so dass ein großer Teil der Gießener Bevölkerung betroffen ist.
Aufgrund von zwei im Auftrag der Stadt erstellen Klimagutachten (Deutscher Wetterdienst DWD 1995³, GEO-NET 2014) galt das Gießener Stadtklima bisher als "gut erforscht". Jedoch wurden bei den Diskussionen um die Bauaktivitäten der letzten Jahre immer wieder Fragen laut, ob sich die Stadtpolitik auch an die Befunde der Gutachten halte und die Erkenntnisse daraus bei zukünftigen Großbaumaßnahmen auch umsetzen werde (GiAll. 01.08.19). Da die Regionalplanung Mittelhessen gegenwärtig beabsichtigt im Südwesten des südwestlichen Gießener Stadtteils (Lützellinden) weitere 40 ha besten Bodens in Gewerbefläche umzuwidmen, gerät die ökologische und klimatische Bedeutung dieser Flächen in den Fokus der weiteren Betrachtungen.⁴
Das Gutachten der GEO-NET Umweltconsulting GmbH Hannover (GEO-Net 2014) strebt an, zur "umfassenden Bestandsaufnahme der klimatisch-lufthygienischen Situation im Stadtgebiet von Gießen" beizutragen, "... die unterschiedlichen Teilflächen ... nach ihren klimatischen Funktionen ..." abzugrenzen sowie "klimaökologisch wichtige Raumstrukturen herauszuarbeiten" (ebd. S.1). Dazu werden meteorologische Parameter (klimatische Gütekriterien, s.u.) modelliert, anhand derer die Untersuchungsräume klassifiziert und verglichen werden.
Bei den in Kapitel 5 (Geo-Net 2014, S. 27-41) dokumentierten Ergebnissen der ermittelten meteorologischen Parameter der Klimamodellierung erzielen die Lützellindener Flächen die höchsten positiven Werte:
Wegen der Bedeutung der Aussagen werden die Abbildungen im Anhang 1-5 dokumentiert.
Seltsamerweise werden die Lützellindener Flächen, die bei den meteorologischen Parametern im Stadtgebiet Gießens höchste positive Werte erzielen, nicht in die Auswertung der Befunde einbezogen!
Anmerkung: Evtl. gehen sie in die Beschreibung der übergeordneten Luftaustauschbereiche (GEO-Net, Kapitel 6.3, Geo-Net S. 47f.) ein. Hier wird der Lahnaue Richtung Norden (Punkt 4) eine hohe "Kaltluftproduktivität über landwirtschaftlichen Nutzflächen und Kleingartenanlagen, Kaltluftströmung mit Durchtrittsbereichen in Richtung Innenstadt" bescheinigt.¹⁰
Zur Einordnung des GEO-NET-Gutachtens sei angemerkt, dass es sich auf autochthone Wetterlagen bezieht, also auf Strahlungswetterlagen mit keiner oder nur schwacher Windströmung und "ungehinderten Ein- und Ausstrahlungsbedingungen" ("austauscharme Strahlungswetternacht"; GEO-Net S. 68, S.1).¹¹ GEO-NET beziffert diese austauscharmen Verhältnisse auf "etwa 9 Prozent der Jahresstunden" (S. 3), sie umfassen "ca. 30% der Nachtstunden in den Sommermonaten Juni, Juli und August" (S.15).
Damit wird deutlich, dass das GEO-NET-Gutachten das Klimageschehen Gießens lediglich für 9% der Jahresstunden und 30% der Sommernächte (Juni, Juli, August) abbildet. Sicherlich umfasst diese Wettersituation (Strahlungswetter) das klimatische "Worst-Case“-Szenario (GEO-Net S.15) für eine wenig durchlüftete Innenstadt (ein für meteorologische Betrachtungen wichtiger Sonderfall). Was aber in den anderen 70 % der Sommernachtstunden und in den 91% der Jahresstunden passiert, in denen keine austauscharmen Verhältnisse herrschen, geht aus dem GEO-NET-Gutachten leider nicht hervor.
Hier gilt es den Blick auf die Lützellindener Flächen zu richten, die bereits bei den betrachteten autochthonen Wetterlagen höchste positive Werte im Gießener Stadtgebiet erzielen. Ihre volle klimatische Bedeutung muss im Zusammenwirken mit dem weiteren klimatischen Geschehen bewertet werden. Ein Blick auf die Windrichtungsverteilung Gießens¹² (s.u.) verdeutlicht, dass im Jahresmittel (von über ca. 16 Jahren) ca. 65-70% des Windes aus südwestlicher Richtung weht, aus der Richtung des geplanten Gewerbeparks Lützellinden. Im heißen Monat Juli sind es ca. 75-80%!
Windrichtungsverteilung Gießen (https://de.windfinder.com/windstatistics/giessen, Zugriff 09.08.2019).
Abbildungen | (Zur Vergrößerung bitte anklicken!) |
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links / oben | Jahresdurchschnitt 2003-2019 (Angaben in %) |
rechts / unten | Juliwert 2003-2019 (Angaben in %) |
Auch sei daran zu erinnern, dass das Amtliche Gutachten Stadtklima Giessen (vom 08.05.1995, s. FN 3) schon damals den heute angestrebten Gewerbestandort südwestlich von Lützellinden als "problematisch" bewertete: "Dabei stellt sich das geplante Gewerbegebiet nördlich der Landesstraße L 3054 aus klimaökologischer Sicht als recht problematisch dar, da die über den Freiflächen produzierte Kaltluft von den Hängen in Richtung Lützellinden abfließt. Die Ergebnisse der Windmessungen zeigten, dass besonders bei Strahlungswetterlagen diese Hangabwinde zur Durchlüftung der Wohnsiedlungen von großer Bedeutung sind." (DWD 1995, S.33f.)¹³
Diese aus klimaökologischer Sicht getroffene Beurteilung ("recht problematisch") bezieht sich auch auf Strahlungswetterlagen ("in den Freiflächen produzierte Kaltluft") und den Stadtteil Lützellinden. Welchen Einfluss die aufsteigende Warmluft der 81 ha Gewerbefläche Lützellindens (versiegelte Beton-, Asphalt- und Dachflächen; 41ha bestehend, 40ha neu) auf die übergeordnete Frischluftversorgung der Stadt Gießen und des Gießener Beckens haben wird, ist noch zu klären. Hier kumulieren thermisch induzierte Flurwinde mit Hangabwinden des Nordtaunus und übergeordneten (von der Großwetterlage beeinflussten) Winden.¹⁴ Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die dynamischen Verhältnisse zu legen, die eine Belüftung Gießens durch horizontale und vertikale Durchmischung bewirken.
Deshalb muss der Einfluss, den die im Südwesten des südwestlichen Gießener Stadtteils vorgesehenen Gewerbeflächen¹⁵ auf die Frischluftzufuhr des Gießener Beckens und der Kernstadt Gießen haben, vor Aufnahme dieser Gewerbeflächen in den Regionalplan Mittelhessen wissenschaftlich¹⁶ ermittelt werden. Keinesfalls darf ein ökologisch bedenklicher (und deshalb unzeitgemäßer) Eingriff in Böden mit hoher Ernährungs- und Ökosystemfunktion zu Verschlechterungen der Lebensbedingungen in der Innenstadt Gießens führen.¹⁷ Hier trägt die Regionalversammlung eine große Verantwortung.
¹ Hierzu: Stellungnahme der "Bürgerintiative Lützellinden sagt Nein" - Wertvolle und seltene Böden schützen, April 2020.
² Klimafunktionskarte und Planungshinweiskarte Klima/Luft für die Universitätsstadt Gießen; Analyse der klima- und immissionsökologischen Funktionen im Stadtgebiet von Gießen und deren planungsrelevante Inwertsetzung im Rahmen einer vorsorgeorientierten Umweltplanung, Modellgestützte Analyse 2014.
³ Deutscher Wetterdienst, Amtliches Gutachten Stadtklima Giessen, vom 08.05.1995 (DWD 1995).
⁴ Die beiden Gießener Klimagutachten entsprechen hohen wissenschaftlichen Standards, verwenden spezielle Ansätze und Methoden (zur Abgrenzung s. Geo-Net 2014, S.1, 60). Verfahren, Vorgehen und Ergebnisse werden angemessen präsentiert (Text, Tabellen, Schaubilder). Aufgrund von Umfang, Komplexität und Qualität kann sich im Weiteren nur auf die Bewertung der Lützellindener Flächen bezogen werden.
⁵ Siehe Anhang 1: 5.1 Kaltlufthaushalt – Bodennahes Lufttemperaturfeld (S.27 - 30); Temperaturfeld zum Zeitpunkt 4 Uhr morgens (2 m über Grund) höchste positive Bewertung (Abb. 5.01; Geo-Net 2014, S.29).
⁶ Anhang 2: 5.2 Kaltlufthaushalt – Autochthones Windfeld (S.31 - 34), Strömungsgeschwindigkeit (m/s) und Richtung zum Zeitpunkt 4 Uhr morgens (2 m ü. Grund) höchste positive Bewertung (Abb. 5.05; S. 32).
⁷ Anhang 3: 5.3 Kaltlufthaushalt – Kaltluftvolumenstrom (S. 34-36), Kaltluftvolumenstrom zum Zeitpunkt 4 Uhr morgens höchste positive Bewertung (Abb: 5.07; S. 34).
⁸ Anhang 4: 5.4 Kaltlufthaushalt – Kaltluftproduktionsrate (S.36 - 37), Kaltluftproduktion im Untersuchungsgebiet hohe positive Bewertung (Abb. 5.08; S. 37).
⁹ Anhang 5: 5.5 Lufthygienische Belastung durch die Quellgruppe Verkehr (s. 38-41), Verdriftung der Luftschadstoffe im nächtlichen Kaltluftströmungsfeld: hohe bis höchste pos. Bewertung trotz Belastungen durch die A 44 (Abb. 5.11; S. 40).
¹⁰ Zur Begründung heißt es, dass das Gebiet in Kontakt "... mit ausgedehnten, westlich vorgelagerten Quellgebieten" steht (ebd. S. 47, 61). Ob damit die Lützellindener Flächen gemeint sind, wäre (von Geo-Net) zu klären. Vielleicht dreht es sich um alle südwestlich der Stadtteile Lützellinden und Allendorf gelegenen Frei- und Waldflächen, die bis an die Gemarkungsgrenze von Wetzlar reichen und in Verbindung mit den Ausläufern des Nordtaunus stehen?
¹¹ Die meteorologische Situation wird in Bodennähe "... vornehmlich durch den Wärme- und Strahlungshaushalt und nur in geringem Maße durch die Luftmasse geprägt" (ebd.).
¹² Windrichtungsverteilung des Windfinders: Die verwandten Statistiken basieren auf Messwerten, die zwischen 01/2003-07/2019 (täglich von 7:00 bis 19:00 Uhr lokaler Zeit) erhoben wurden.
¹³ "Eine Bebauung dieser ausgewiesenen Flächen würde zum einen die Ausgleichsfunktion der thermisch induzierten Hangabwinde unterbinden, zum anderen könnten Emissionen von abgasintensiven Betrieben durch die nächtlichen Kaltluftabflüsse verfrachtet werden, so dass es zu einer Verschlechterung der bioklimatisch/lufthygienischen Situation in Lützellinden kommen kann" (ebd.).
¹⁴ Das für diese Flächen angegebene Windpotential (140 m über Grund) wird vom Landkreis Gießen mit 5,5 m/s beziffert. Hessische Verwaltung für Bodenmanagement und Geoinformation (HVBG) Fachdaten: Windpotenzialdaten, TÜV SÜD Industrie Service GmbH, Abt. Wind Cert Services im Auftrag des Hessischen Ministeriums für Umwelt, Energie, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (HMUELV), Grafik: HMWVL, Ref. I3, Mai 2012.
¹⁵ Besser noch: Die südwestlich der Stadtteile Lützellinden und Allendorf gelegenen bis an die Gemarkungsgrenze von Wetzlar reichenden und in Verbindung mit den Ausläufern des Nordtaunus stehenden Frei- und Waldflächen.
¹⁶ Es muss ein wissenschaftliches Gutachten sein, da Auftragsgutachten danach tendieren, das vom Auftragssteller (Bezahler) Beabsichtigte in einem guten Licht erscheinen zu lassen.
¹⁷ Studien belegen, dass Hitzewellen in den vergangenen Jahren in Deutschland Tausende Todesfälle bewirkten. "Mit geschätzt 7600 Toten sei die Hitzewelle 2003 die folgenschwerste im Zeitraum 2001 bis 2015 gewesen, berichteten kürzlich Wissenschaftler im "Bundesgesundheitsblatt". Für den Sommer 2018 liegen noch keine bundesweiten Auswertungen vor – allein für Berlin gehen Experten aber von etwa 490 Todesfällen aus" (Hannoversche Allgemeine vom 30.06.2019, https://www.haz.de/Nachrichten/Wissen/Uebersicht/Hitzewellen-fordern-Tausende-Todesopfer-in-Deutschland (Zugriff am 24.05.2020). Dazu: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/105094/Hitze-verursachte-2018-fast-2-000-Todesfaelle-in-Baden-Wuerttemberg.
¹ "Die niedrigsten Temperaturen im Untersuchungsgebiet sind mit weniger als 14°C über den ausgedehnten landwirtschaftlich genutzten Arealen im südwestlichen Stadtgebiet bei Lützellinden zu verzeichnen, was in ihrer starken langwelligen Ausstrahlung nach Sonnenuntergang begründet liegt" (Geo-Net 2014, S.29).